Dies ist ein Gastbeitrag von Vanessa Hava Schulmann (Stand Januar 2025)
Hinweis: Die folgenden Informationen beziehen sich ausschließlich auf menschliche Gebeine/Überreste. Darüber hinaus befinden sich vor allem nicht-menschliche Präparate in der Zoologischen Lehrsammlung, deren Prüfung auf koloniale Kontexte nicht von dem von Vanessa Hava Schulmann geleiteten Provenienzprojekt (Laufzeit August 2023 – Juli 2025) abgedeckt ist. Zudem wurden Informationen zu der Zoologischen Lehrsammlung für den We Want Them Back Gutachten von Decolonize Berlin e.V. erfasst – jedoch vor dem Start der Provenienzprojekts. Somit sind einige dort geschriebene Informationen inzwischen mit neuem Wissensstand zu betrachten.
Aktuelle Bestände mit (möglichen) kolonialen Kontexten:
1) menschliche Gebeine aus dem Kontext des Lehrmittelhandels aus Indien
Kontext:
Die Herkunft der Menschen, deren Körper im "Lehrmittelhandel" verkauft wurden ist meist anonym, jedoch sind je nach Firma Erwerbskontexte bekannt. In diesem Fall handelt es sich um Gebeine von Menschen aus Indien, die (angeblich) von einer Lehrmittelfirma angekauft wurden. Informationen zum Kontext wurden entweder von der Firma X (hier anonymisiert) nach Anfrage direkt mitgeteilt oder aus Erinnerungsberichten ehemaliger Mitarbeitende der Zoologischen Lehrsammlung entnommen.
Die Literatur lässt vermuten, dass der Handel mit Gebeinen aus Indien zu Kolonialzeiten begann. Für die britische Anatomielehre standen nicht genug Körper zur Verfügung, sodass es zu Grabraub und Morden kam (Stichwort "resurrectionists"). [1] Jedoch wurde dann im damals kolonisierten Indien eine Infrastruktur für den sog. "Erwerb" und die Verarbeitung menschlicher Körper geschaffen. Es wird sich vermutlich meist um die Körper von Menschen, welche ohne Angehörige verstorben sind oder z.B. Angehörige durch finanzielle Mittel überredet wurden die Körper ihrer Angehörigen abzugeben. Jedoch sind auch Grabraub, Entführung und Mord entweder bekannte oder vermutete Kontexte. Die Verarbeitung der Körper und Knochen erfolgte durch marginalisierte Personengruppen in Indien. Dieser sehr lukrative Markt machte Indien zu dem globalen "Hauptexporteur" menschlicher Gebeine, sogar nach der Kolonialzeit. Mit der Zeit waren es meist lokale indische Händler, welche an internationale Firmen verkauften.
Der Export menschlicher Gebeine aus Indien ist seit 1985 illegal, nachdem ein Händler mit hunderten bzw. tausenden Kindesskeletten verhaftet wurde. [2]
Bestände:
Die Firma bestätigte den Kontext "Lehrmittelhandel Indien" für ein adultes Skelett (Herstellung und Lieferung 1960er), Foetusskelett (Herstellung und Lieferung frühe 1970er) und 2 Schädel in "gesprengter" Präparation (Herstellung und Lieferung frühe 1970er). [3] Für 19 weitere Schädel(-teile) steht der Verdacht "Lehrmittelhandel Indien" im Raum, da ein Zeitzeuge sich erinnerte die Schädel von derselben Firma für die Universität angekauft und inventarisiert zu haben. Da alle diese "Präparate" vor 1985 hergestellt und verkauft worden sind, spielte sich alles im Rahmen des Legalen ab.
Ebenfalls sind scheinbar alle "Präparate" nach Indiens Unabhängigkeit (1947) hergestellt und geliefert worden, weswegen das Label "kolonialer Kontext" entsprechend diskutiert werden sollte. Unabhängig von Legalität gilt es den Kontext an sich zu diskutieren. Ein kolonialer Kontext in der Entstehung dieses Lehrmittelhandels ist allerdings nachweisbar.
2) Hüftknochen-Abgüsse der Firma Wenner-Gren mit problematischer Bezeichnung des Herstellers
Bei diesen im We Want Them Back Bericht erwähnten Beständen (S. 128–129) ergeben sich aufgrund der Dokumentation zwei Sorgen, nämlich, die Verwendung eines kolonial-behafteten Sammelbegriffs („Pygmy“ bzw. „Pygmäe“) bezogen auf mehrere Hüftknochen-Abgüsse und der Verdacht, ob ein echtes Steißbein einer so beschriebenen Person in der Sammlung sich finden lassen könnte, da es gemeinsam mit den Abgüssen inventarisiert wurde.
Ein Dokumentationsfehler ließ sich ermitteln. Die problematische Bezeichnung wurde auf ein Steißbein bezogen inventarisiert. Dies ist falsch, denn es befindet sich in der Zoologischen Lehrsammlung kein entsprechendes Steißbein, sondern nur ein Kreuzbein (was manchmal mit dem Steißbein verwechselt wird) mit unbekannter Herkunft (siehe unten).
Ebenfalls befinden sich nur zwei Abgüsse (jeweils Kopien derselben Form) welche laut Originalbeschreibung des Herstellers unter dem Begriff "innominate" (Deutsch: Hüftknochen) verkauft wurden. Auf Nachfrage ließen sich folgende weitere Informationen herausfinden:
- der Abguss wurde 1968 angefertigt
- der Originalknochen stammte aus der Galloway Osteological Collection at the Makerere University College of Health Sciences in Kampala, Uganda
- das Individuum wurde von den befragten Personen als "Batwa" oder "Mbuti" bezeichnet
Die Firma ist selbst dabei, ihre ehemaligen "Produkte" der AnthroCast Serie auf koloniale Kontexte zu prüfen.
Aktuelle Bestände bei denen koloniale Kontexte nicht auszuschließen sind:
3) Stark erodierter Schädel mit grüner Patina auf der Schädeldecke
Die grüne streifenförmige Verfärbung befindet sich entlang der Stirn, und erinnert an ein Haarband oder eine Krone. Der Schädel wurde basierend auf nicht-invasiver anthropologischer Begutachtung von mehreren Expert*innen als archäologisch eingestuft, möglicherweise vor der christlichen Zeitzählung.
Aufgrund von Hinweisen auf Kopfschmuck (Verfärbung quer über die Stirn die auf Kontakt zwischen Knochen und Metall wie Bronze oder sowas hinweist) wurden Vermutungen zur Herkunft bzw. bekannten Fällen einer solchen kulturellen Praxis gemacht (Österreich, Spanien, Südamerika). Jedoch konnte nichts Definitives ausgesagt werden und es ist keinerlei Dokumentation vorhanden. Es bleibt also unklar ob der Schädel an sich bzw. die Grabungsumstände koloniale Kontexte haben.
4) Skelett ohne Schädel, aufrecht montiert
Mehrere angefragte Wissenschaftler*innen der physischen Anthropologie haben das Skelett als eines aus dem Ende 19. / Anfang 20. Jahrhundert eingeschätzt, eventuell vor dem 1. Weltkrieg. Das Individuum sei mit 20 Jahren oder jünger gestorben. Der Herkunftskontext bleibt unklar.
Auffällig ist eine Metallmarke mit den eingestanzten Nummern 57-22. Eine andere Reihenfolge ist je nach Lesart auch möglich, da die Zahlen horizontal und vertikal angeordnet sind. Eine solche Metallmarke haben die meisten befragten Expert*innen noch nie gesehen. Laut einigen Expert*innen wurden Metallmarken bei Wasser-Mazerationen verwendet, wie bspw. bei der Lösung von weichem Gewebe von dem Knochen durch z.B. Lagerung in Wasser, da Metallmarke von dem Prozess nicht angegriffen wurde. Aufgrund des geschätzten Alters kann ein kolonialer Kontext für das Skelett nicht ausgeschlossen werden.
5) Sakrum bzw. Kreuzbein mit dunkelbrauner Farbe
Dieses wurde bisher von eingeladenen Wissenschaftler*innen als „Mumie“ oder aus einer „Gruft“ entnommen eingeschätzt basierend auf dem Erscheinungsbild. Aufgrund des von Decolonize Berlin e.V. genannten Verdachts auf kolonialen Kontext (siehe Punkt 2 oben) wurde dieses Sakrum überprüft. Da es keinerlei Dokumentation für dieses Sakrum gibt, könnte maximal überlegt werden, ob eine Körpergröße im Kontext der problematischen Bezeichnung „pygmy“ eine Spur geben könnte. Eine solche Einschätzung ist jedoch nicht machbar auf Basis eines Sakrums allein. Demnach ist der Verdacht widerlegt, jedoch kann ein kolonialer Kontext nicht ausgeschlossen werden, da das Sakrum ohne Dokumentation vorliegt und zudem ein recht auffälliger ungewöhnlicher Bestand der Zoologischen Lehrsammlung ist.
Ehemalige Bestände mit (möglichen) kolonialen Kontexten:
S-Sammlung
Ein externer Experte, der im Rahmen einer Ersteinschätzung eingeladen wurde, [4] erkannte auf zwei menschlichen Gebeinen (Humerus/Oberarmknochen & Mandibula/Unterkiefer) Markierungen bzw. Nummerierungen, die charakteristisch für die S-Sammlung des ehem. Museum für Völkerkunde sind, eine Sammlung, die größtenteils durch die Tätigkeit von Felix von Luschan entstand. Durch weitere Nachforschungen konnte der Verdacht bestätigt werden. Der Humerus wurde vorerst auf Basis von Dokumentation mit der Region „Ozeanien“ in Verbindung gebracht, die Mandibula hat soweit eine unbekannte Herkunft. Im Juli 2022 übergab die Zoologische Lehrsammlung diese beiden menschlichen Gebeine an das Museum für Vor- und Frühgeschichte (MVF), da dieses das Provenienzprojekt zu der S-Sammlung leitet und über die Dokumentation und Aufbewahrungsmöglichkeiten verfügt.
Rudolf-Virchow-Sammlung
In dem Gutachten We Want Them Back wird ein Gerücht erwähnt: die Zoologische Lehrsammlung enthalte auch Langknochen aus der Sammlung Rudolf Virchows (RV-Sammlung) (S. 129). Es konnte durch eine Expertin der RV-Sammlung ausgeschlossen werden, dass sich menschliche Gebeine der RV-Sammlung in der Zoologischen Lehrsammlung befinden. Jedoch soll es in der Vergangenheit Postkranien (Knochenteile unterhalb des Schädels) der RV-Sammlung an der FU Berlin gegeben haben. Die Erinnerungsberichte verschiedener Seiten widersprechen sich jedoch teilweise.
Nasspräparate von Köpfen
Mehrere ehemalige Mitarbeitende an ehemaligen anthropologischen und humanbiologischen Arbeitsgruppen der FU erinnerten sich an zwei Nasspräparate menschlicher Köpfe in zylindrischen Gefäßen. Auch dies wurde im We Want Them Back Report thematisiert (S. 158). Es waren vollständig präservierte Köpfe enthaupteter Personen. Folgende Beschreibungen sind bekannt:
- Kopf einer männlichen Person. Bezeichnungen „Mongolenkopf“ oder „Chinese aus dem Boxeraufstand“, d.h. aus der Yìhéquán Bewegung (義和拳). Dieser Kopf war laut ehemaligen Mitarbeitenden in einem schlechten Erhaltungszustand, da er gegen das Glas lehnte und das Glas brechen könnte.
- Kopf einer männlichen Person. Bezeichnet als „Person aus Papua Neuguinea“
In beiden Fällen ist unbekannt, woher die Köpfe kamen. Ebenfalls wussten die Personen nicht mehr, ob ihnen die hier beschriebenen Informationen mündlich mitgeteilt wurden, oder ob diese schriftlich festgehalten waren. Es ist ebenfalls unbekannt, was mit diesen Köpfen geschehen ist, da sie sich nicht mehr in Sammlungsbeständen der Biologie zu befinden scheinen. Auf Basis eigener Recherchen und Gespräche kann stark vermuten werden, dass es sich um koloniale Kontexte gehandelt hat, aber auch, dass die Köpfe anonym bestattet wurden.
Ansprechpartnerin: Vanessa Hava Schulmann (v.schulmann [at] fu-berlin [punkt] de)
Literatur:
Reimann, Isabelle; Nguherimo, Jephta U.; Mboro, Mnyaka Sururu et al.: We Want Them Back: Wissenschaftliches Gutachten zum Bestand menschlicher Überreste/Human Remains aus kolonialen Kontexten in Berlin. Decolonize Berlin 2022, S. 128-131.
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[1] 1832 kam in Großbrittanien der Anatomy Act welcher die Aktivitäten der sog. „ressurrectionists“ einschränkte.
[3] Die Firma existiert heute noch, nutzt aber seit den 1970er Jahren keine menschlichen Gebeine mehr für Präparate. Die Bestätigung über die ehemalige Herstellung von sog. „Lehrskeletten“ und konkrete Fälle aus der Lehrsammlung sind aber aktuell.